Ausländische Forscher in der Schweiz

Die Schweiz ist Weltspitze - und zwar in Bezug auf die Zahl der ausländischen Forschenden. Im Jahr 2011 lag der Anteil ausländischer Forscher, die in der Schweiz arbeiten, bei 57%, gefolgt von Kanada mit 47%, Australien mit 45%, den USA und Schweden mit jeweils 38% [1]. Wenn ich mir die Nationalitäten von Doktoranden und Assistenten in der Chemie an unserer Universität ansehe, würde ich diese Zahl eher auf 95 % setzen. Sie kommen meist aus Osteuropa, dem Mittleren Osten, Indien oder China. Jemanden zu finden, der in der Schweiz geboren und ausgebildet wurde, ist eine Herausforderung. Die Situation ist ähnlich in den Natur- und Ingenieurwissenschaften an anderen Schweizer Universitäten, darunter auch an den Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETHZ, EPFL). Während es an den letztgenannten Institutionen ein paar in der Schweiz ausgebildete Doktoranden gibt, kommt die überwiegende Mehrheit trotzdem aus dem Ausland. Dieser Trend geht an den Universitäten bis zur Professorenebene weiter, aber ist auch in der Industrie sichtbar. Eine solche Situation ist in der Schweiz nichts Neues. Ganze Wirtschaftszweige haben sich fast ausschließlich auf ausländische Arbeitskräfte verlassen, so beispielsweise, das Baugewerbe, die Hotellerie und Pflegedienste. Der einzige neue Aspekt ist, dass man nun auch Naturwissenschaftler und Ingenieure in der Liste aufnehmen sollte.

Warum ist das so? Ich möchte mich hier auf die Naturwissenschaften konzentrieren, weil fast die gleichen Muster die Physik, Chemie, Biologie und Geologie betreffen. Die Situation ist ähnlich in der Mathematik, Informatik, Ingenieurwissenschaften, Biowissenschaften und Medizin. Aber da ich mit denen nicht wirklich vertraut bin, werde ich mich nur auf die Naturwissenschaften beschränken.

Ein wahrscheinlicher Grund ist der kleine Anteil der Studienanfänger in den naturwissenschaftlichen Fächern. Voraussetzung für den Hochschulzugang ist die bestandene Maturitätsprüfung (in Deutschland Abitur oder Reifeprüfung genannt), und in der Schweiz bestehen nur etwa 20 % der Jugendlichen diese Hürde. Zudem sind die naturwissenschaftlichen Lehrpläne an den Universitäten eher selektiv, wobei oft weniger als die Hälfte der Studienanfänger das Studium absolvieren.

In der Schweiz erlernen viele einen Beruf mittels einer Lehre. Einige unter denen können auch die Maturitätsprüfung (sogenannte Berufsmatur) bestehen, und zusätzlich entspricht dies etwa 10%. Doch dieser Zugang zu den Universitäten ist nicht einfach. Aber auch wenn man 30% als Referenzwert nimmt, ist diese Zahl im Vergleich zu anderen europäischen Ländern klein.

Die Möglichkeit, einen Beruf durch eine Lehre zu erwerben, wird oft als Rezept gegen die Arbeitslosigkeit propagiert, was tatsächlich in der Schweiz, Deutschland oder den Niederlanden zuzutreffen scheint. Hingegen bestehen in Deutschland fast 50% die Maturitätsprüfung und dort findet man nur 23% ausländischer Forscher [1]. Dies kann ich aus persönlicher Erfahrung bestätigen. In Deutschland sind die meisten Chemiker Deutsche und wurden in Deutschland ausgebildet.

Die geringe Anzahl von Naturwissenschaftlern, die in der Schweiz ausgebildet werden, ist somit primär auf die kleine Erfolgsquote bei der Maturitätsprüfung und auf die Selektivität der universitären Ausbildung zurückzuführen. Die Möglichkeit, eine Berufsausbildung über die Lehre zu erhalten, ist sicherlich sinnvoll, hat aber mit dem Problem der geringen Zahl von ausgebildeten Naturwissenschaftlern kaum etwas zu tun [2].

Die Selektivität der Maturitätsprüfung und der universitärer Ausbildung ist sicherlich nicht der einzige Grund für diese kleine Anzahl. Schweizer Jugendliche sind kaum motiviert, ein naturwissenschaftliches Studium zu absolvieren. Viele Universitäten, darunter auch unsere, bieten recht aufwendige Programme für Schulkinder an, was nichts anderes ist als eine Werbung für solche Abschlüsse. Aber offensichtlich bevorzugen die jungen Leute, die an einer Universität studieren, Wirtschaft oder Recht, wo es vielleicht einfacher ist, einen Abschluss zu erhalten und Geld zu verdienen.

Leider ist auch die naturwissenschaftliche Ausbildung an den Schweizer Universitäten lang und bewegt sich kaum auf einem hohen Qualitätsniveau. Professoren halten oft über Jahre die gleichen Vorlesungen, es gibt kaum eine Überprüfung der Lehrpläne und deren Inhalte. Der Kontakt zwischen Studierenden und Professoren ist sporadisch, mit dem Resultat, dass Studierende, die ihren Abschluss erhalten, wenig motiviert sind, im internationalen Vergleich relativ alt, und trotzdem nur eine durchschnittliche Ausbildung vorweisen können. Angesichts der strikten Auswahl ist diese Situation frustrierend. Vielleicht ist die Schweiz tatsächlich bildungsfeindlich, wie der Schweizer Historiker Philipp Sarasin argumentiert [2]. Man sieht die Bildung typischerweise als ein Vehikel, um eine Arbeitsstelle zu finden, und nicht als intellektuelles Gut, welches für eine funktionierende und aufgeklärte Gesellschaft notwendig wäre.

In einer solchen Situation ist es nicht verwunderlich, dass Forschungseinrichtungen und Unternehmen lieber international rekrutieren, wobei sie oft jüngere, mehr motivierte und besser ausgebildete Mitarbeiter finden und - leider - auch solche, die bereit sind, für niedrigere Löhne zu arbeiten. Aus dem Ausland betrachtet, bietet ja die Schweiz überdurchschnittlich gute Gehälter an. Es liegt auf der Hand, dass diese Situation einen Teufelskreis schafft, da sich der Arbeitsmarkt zunehmend an den ausländischen Arbeitskräften orientiert und in der Folge immer weniger Jugendliche in die Naturwissenschaften gehen. Diese Entwicklung macht sich im gesamten Chemie-Sektor deutlich bemerkbar, aber ist anderswo sicherlich auch vorhanden. Man redet gerne von einem Mangel an hochqualifizierten Fachkräften in den Natur- und Ingenieurwissenschaften [3], aber ich frage mich, ob dieser Mangel nicht eher als ein Scheinargument zur Aufrechterhaltung des Status quo dient. Viele profitieren vom jetzigen System.

Ist all das ein Problem? Die Schweiz ist als ein Land sicherlich einigermassen gut unterwegs, sicher besser als andere. Warum also nicht einfach Wissenschaftler aus dem Ausland importieren, wie es bei Bauarbeitern, Hotelpersonal und Krankenschwestern bereits üblich ist? Zudem ist die Ausbildung von Naturwissenschaftlern teuer, und es ist sicherlich billiger, in der Schweiz nur wenige auszubilden und den Rest zu importieren.

Michio Kaku, ein Physiker, der stark in gesellschaftlichen Aspekten involviert ist, äußert sich sehr skeptisch gegenüber einer solchen Situation, die in den USA ähnlich ist und die er einfach "brain drain" nennt [2]. Auch die USA sind nicht in der Lage, genügend kompetente Naturwissenschaftler auszubilden, und - wie die Schweiz - füllen sie die leeren Ränge mit Forschern aus dem Ausland. Was die Anzahl ausländischer Forscher angeht, liegen die USA tatsächlich nicht weit hinter der Schweiz. Kaku geht sogar noch weiter, indem er Freeman Dyson zitiert [2]. Eine Gesellschaft ist im Niedergang begriffen, wenn die Klügsten nicht mehr die schwierigsten Probleme in der Mathematik und den Naturwissenschaften angehen, sondern wenn sie sich nur allzu oft zum Ziel setzen, das Geld anderer zu manipulieren und zu verwalten.

Vielleicht ist die Situation nicht so dramatisch. Die Schweiz, Kanada, Australien und die USA sind seit Jahrhunderten Immigrantenländer, und als solche haben sie sich auf Immigranten als Arbeitskräfte verlassen. Sind die Immigranten jedoch hoch qualifiziert, ist dies sicherlich ein unfaires "brain drain". Diese Wissenschaftler würden dort, wo sie herkommen, wahrscheinlich mehr gebraucht.

Die westlichen Gesellschaften waren wahrscheinlich noch nie so abhängig von fortschrittlichen Technologien wie heute, aber wir scheinen nicht in der Lage, unsere eigenen Leute zu motivieren, damit sie notwendigen Fähigkeiten zu erwerben und diese Technologien weiterzuentwickeln. Der erste naheliegende Schritt wäre, mehr Studenten in alle Stufen des Bildungssystems zuzulassen, weil das strenge Schweizer Auswahlverfahren sicherlich viele Fähige übersehen hat. Ob dies ausreicht, wird die Zukunft weisen.

Michal Borkovec, 5. Februar, 2018

References

[1] Schweizerischer Nationalfonds - Akademien Schweiz: Horizonte 101, Juni 2014, page 20, link.

[2] Philipp Sarasin, Wieso die Schweiz so bildungsfeindlich ist, Tages Anzeiger, 11.10.2011, link link.

[3] Mangel an MINT-Fachkräften in der Schweiz, Bericht des Bundesrates, August 2010, link.

[4] Michio Kaku, Physics of the Future , Penguin Books, 2012, link.


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