Wie man sich in der Wissenschaft täuschen kann

Diese kurze Geschichte zeigt, wie eine grosse Gruppe von Wissenschaftlern völlig falsch liegen kann, und dies bei einer so einfachen Sache wie Dichtemessung von Wasser. Wasser hat ein Dichtemaximum bei 4°C. Diese Tatsache ist wissenschaftlich gut belegt [1], und wird in den meisten Chemie- und Physik-Einführungs-Veranstaltungen diskutiert, zusammen mit der erstaunlichen Konsequenz, dass Fische im Winter auf dem See-Grund überleben können. Diese Tatsache in einem allgemeinen chemischen Labor zu reproduzieren hat seinen pädagogischen Wert, und genau dies haben wir und unsere Vorgänger an unserer Universität bei der Organisation eines solchen Praktikums gedacht.

Density Maximum Setup Während einer Generalüberholung des allgemeinen Chemielabors, welche zwischen 2006-2009 gemacht wurde, sind viele der früheren Experimente ersetzt worden, weil sie nicht richtig funktioniert haben, für die Ausbildung ungeeignet oder für Studienanfänger zu gefährlich waren. Eines der bestehenden Experimente hat sofort diese Auswahl überlebt, und wurde in das neue Programm aufgenommen, nämlich die Dichtemessung von Wasser. Der Aufbau ist einfach. Ein Rundkolben wird mit Wasser gefüllt, und in den verstellbaren Verschluss wird eine Messpipette eingeschlossen, siehe Foto. Man muss darauf achten, dass der Wassermeniskus in der Pipette sichtbar ist, und dass keine Luftblasen eingeschlossen sind. Der Kolben wird in einen grossen Becher, der mit Wasser gefüllt ist, eingetaucht, wobei Eis zugefügt wird, bis sich die Temperatur auf 0°C eingestellt hat. Sobald das Eis geschmolzen ist, steigt die Temperatur langsam an, und die Volumenänderung des eingeschlossen Wassers kann durch die Höhe des Meniskus genau verfolgt werden. Dichtemaximum zeigt sich durch eine Abnahme der Meniskushöhe bis 4°C erreicht sind und eine anschliessende Zunahme bei einem weiteren Temperaturanstieg.

Zunächst haben wir einen 50-ml-Rundkolben und eine 2-ml-Messpipette verwendet. Jedes Jahr wurde dieses Experiment parallel von etwa 20 Studentengruppen durchgeführt. Die Studenten haben schriftliche Berichte abgegeben, und diese Berichte wurden durch die Assistenten korrigiert. Darüber hinaus mussten je zwei Assistenten ein Experiment betreuen, einschliesslich die Dichtemessung. Diese Assistenten mussten das Experiment vor der Ausführung des Experiments durch die Studenten selber durchführen, und ihre Ergebnisse uns vorstellen. Alle Studenten und Assistenten haben das Dichtemaximum nachgewiesen. Während eines Zeitraums von etwa 6 Jahren waren wir alle mit diesem Experiment glücklich. Die Katastrophe passierte um 2013. Ein neuer Assistent wurde diesem Experiment zugewiesen, und er hat behauptet, dass das Experiment gar nicht funktioniert. Unsere erste Reaktion war geduldig zu erklären, dass er einen Fehler gemacht haben muss, weil ja dieses Experiment über lange Zeit perfekt funktioniert hat. Er bestand auf seiner Behauptung, und hat sie mit einer einfachen Rechnung belegt. In Tabellen [1] findet man, dass der relative Unterschied in der Dichte von flüssigem Wasser bei 0°C und 4°C eigentlich nur 0,013% ist. Für den gegebenen Aufbau macht dies gerade eine Volumendifferenz von 6,5 µl. Dieser Wert liegt recht weit unter der Auflösung der verwendeten Pipette, die höchstens 20 µl beträgt. Und wie wollen Sie da das Dichtemaximum messen? Dafür brauchen Sie eine 10-fach höhere Auflösung. Wir haben wiederum gesagt, sie müssen irgendwo einen Fehler gemacht haben. Dennoch wiederholten wir die Rechnung selbst. Der Mann hatte Recht!

In der Zwischenzeit wurde das Experiment abgeändert und funktioniert schliesslich richtig. Es hat sich schliesslich als ein ziemlicher Aufwand herausgestellt, dieses Experiment für die Studenten anzupassen. Wir haben keine geeigneten kommerziellen Messpipetten gefunden, aber schliesslich konnten lange Glaskapillaren verwenden werden. Hinter der Kapillare wurde ein graduierter Papierstreifen angebracht. Mit diesem Aufbau konnte das Dichtemaximum als eine Verminderung der Meniskushöhe von etwa 2 cm quantitativ beobachtet werden. Es braucht tatsächlich einen empfindlichen Aufbau, weil man einen sehr kleinen Effekt beobachten möchte. Wir hätten schon von Anfang an skeptisch sein sollen.

Der interessante Teil dieser Geschichte ist nicht wie das Dichtemaximum von Wasser in einem Studentenlabor richtig zu messen ist. Der interessante Teil ist, wie es menschenmöglich war, dass Hunderte von Leuten einen Effekt beobachtet haben, der unmöglich mit dem verfügbaren Aufbau zu beobachten war? War dies Massenhypnose? Aber all diese Leute sind Wissenschaftler, die gegen solche Fehler immun sein sollten. Anscheinend war dies nicht der Fall. Wissenschaftler sind Menschen, und können in die Irre geführt werden. Ja, hier war die bewiesene Tatsache, dass das Dichtemaximum vorhanden ist, und wer möchte dies bezweifeln? Ja, es gab Generationen von Studenten und Assistenten, die haben (scheinbar) diesen Effekt mit dem gleichen Aufbau beobachtet. Und ja, wenn ich als Student den Effekt nicht beobachte, könnte ich eine schlechte Note bekommen, oder wenn ich mich als Assistent über das Experiment beschwere, könnte ich gefragt werden, dies zu verbessern. Wenn sich vielleicht einmal doch ein Student darüber beklagt hatte, dem wurde vermutlich gesagt, sie sollten genauer hinschauen. Vielleicht konnte man das Dichtemaximum qualitativ beobachten als eine winzige Verminderung in der Meniskushöhe von einem Millimeter-Bruchteil. Die Assistenten mussten aber die Experimente jedes Jahr durchführen und uns danach ihre Ergebnisse präsentieren. Offensichtlich haben wir nicht sorgfältig genug hingesehen. Vermutlich gab es bei den meisten Assistenten gar kein Maximum unter den Datenpunkten, und wir haben es für ein solches gehalten. Oder haben einige ihre Daten ein bisschen frisiert?

Was erstaunlich ist, das Problem war über Jahre da, aber weder ein Assistent noch ein Student hat je darüber berichtet. Hunderte von Leuten mussten den Fehler gesehen haben, aber niemand wagte es, darauf hinzuweisen. Vielleicht taten es einige, aber sie wurden unterwegs zum Schweigen gebracht. Nun gut, das Problem ist schliesslich gefunden und behoben worden.

Dennoch hinterlässt die Geschichte ein unangenehmes Gefühl. Diese Frage war so furchtbar trivial, völlig falsch, aber trotzdem haben Hunderte von Leuten dies an sich vorbeigehen lassen. Gibt es möglicherweise andere Probleme in diesem Chemielabor, die noch unbemerkt sind? Gibt es ähnliche Probleme im Vorlesungsmaterial? In fortgeschrittenen Labors und Vorlesungen sind solche Probleme sicherlich viel schwieriger zu entdecken. Wie steht es mit wissenschaftlichen Ergebnissen, die in Forschungsgruppen erarbeitet werden? Könnten dort ähnliche Mechanismen funktionieren? Niemand nimmt sich die Mühe, ein Experiment hundert Mal zu reproduzieren. Aber selbst es wiederholt zu reproduzieren reicht vielleicht nicht. Wenn Erwartungen vorhanden sind, besteht die Tendenz, diese zu erfüllen. Man möchte gefallen, sei es den Kollegen, Vorgesetzten, oder Gutachtern. Schwierigkeiten geht man eher aus dem Weg. Wenn man einer akzeptierten Weisheit widerspricht, wird man tendenziell zum Schweigen gebracht. In der Tat, die Suche nach einer richtigen Antwort kann eine grosse Herausforderung sein.

Michal Borkovec, 30. Dezember, 2014
Aktualisiert, 26. Oktober, 2023

Referenzen

[1] Eigenschaften des Wassers - Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, en.wikipedia.org/wiki/Eigenschaften_des_Wassers

[2] Diese Zahl war in einer früheren Version dieses Beitrags falsch und wurde nun aufgrund eines anonymen Kommentators korrigiert. Besten Dank für den Hinweis. Der entsprechende Kommentar ist nun gelöscht.


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